Mario Tamponi Zurück

Zurück in Sardinien

Nach vielen Jahren in Berlin sah ich meine Heimat als Tourist wieder. In Sardinien sind die Worte Steine. Und die Steine Worte. In der Gallura sind sie Granit – gute, sanfte Felsen mit Namen und Gesichtern, die sich nicht auflösen wie die verschwimmenden Wolkenspiele. Sie sind die „Madonna“, die an der Calangianus zugewandten Seite des Bergs Limbara meditiert, oder der „Bär“, der die Sonnenbucht zwischen Palau und La Maddalena überwacht; da sind die Felsbrocken, die die Hügel von Aggius und Arzachena wie ein Panzer überziehen; und viele andere mehr, die der frivolen Neugier der Touristen standhalten. Im Dialog mit den Wolken, den Oasen der Feigenkakteen, den Eichen oder den Myrthenbüschen verbreiten sie das Gefühl von Kraft und Beständigkeit. Ohne menschliche Rhetorik oder die Schmeichelei von Haustieren erklären sie dir ihre Freundschaft, die man mit einer Umarmung oder einer Liebkosung erwidern möchte. Mit ihren abgeschliffenen Ecken und Kanten und den von Wind und Wetter eingegerbten Farben erzählen sie dir ihre Geschichte. Oh ja, sie haben eine Seele! Ihre Ruhe atmet im Gleichklang mit den Zeiten des Kosmos, bleibt sich stets treu auch im Wechsel der menschlichen Launen, die Kulturen, aber auch ideologischen Wahnsinn hervorbringen. Sie sind die Kameraden der Kindheit, die – fast immer verschleiert von einer törichten Scham – auch im reiferen Alter als Bedürfnis nach Schutz und Zärtlichkeit überlebt. In Symbiose mit ihnen bin ich geboren und aufgewachsen, bis sie sich in meine Seele einprägten, die die Steine so genau kennt wie der Wein, der an den Hängen des Ätna reift, die Lava. Zur Trennung gezwungen, siedelten sie sich in meinen Träumen an. Ihr Stolz wirkt sich noch immer auf Gefühle und Schweigen aus, ja auf die Zähigkeit, ohne nachzugeben und bis zum Letzten mit zusammengepressten Zähnen die Widersprüchlichkeiten zu ertragen. Dort, wo ich nun seit vielen Jahren lebe, gibt es keinen Granit; es gibt keine Feigenkakteen und keine Myrthenbüsche, nicht den stechenden Duft von Rosmarin, keine Bäche, die zwischen Kieseln sich abwärts schlängelnd meinen Dialekt sprechen, keine nach Obst duftenden Bäume, nicht das mystische Ritual der Weinlese, kein smaragdgrünes Meer und keine launischen Winde, die dir im Nu das tiefe Blau und gen Abend die Sterne wiederbringen, keine Zikaden, die den Mond hofieren, keine vom Farbwechsel der Felder und den kreischend zwischen den Dächern umherschweifenden Schwalben gezeichneten Jahreszeiten, keine Gassen, die nach Cappuccino duften wie die Dorffeste nach Torrone. Für einen Sarden im Exil ist Sardinien verlorenes Paradies und gelobtes Land, das sich aber im gleichen Moment wieder auflöst, wenn du mit dem Gedanken spielst, dich hier noch einmal niederzulassen. Denn für den, der dort unten lebt, ist das Ganze kein Paradies, und der Zauber wird oft von den Mühen des Alltags und den Familienfehden zerstört. Das Paradies existiert, solange eine Spannung besteht zwischen zwei verschiedenen Welten und die eine sehnsüchtig nach der anderen trachtet. Deshalb bin ich nach Sardinien zurückgekehrt, ohne Ansprüche zu stellen – mit der Diskretion des Fremden, der Eile des Touristen. In der Peripherie von Palau erreichte ich jene magische Stelle, wo sich für den, der per Zug von Calangianus anreist, plötzlich der Ausblick aufs Meer eröffnet. Beim ersten Mal werde ich wohl fünf Jahre alt gewesen sein – zusammen mit den Großeltern in einem mit unserem Gepäck vollgestopften Waggon, der seit dem letzten Tunnel von Rauch durchzogen war. Ich kann mich in meinem Leben an kein umwerfenderes Erlebnis erinnern als diesen Anblick: erst eine Bildersequenz, unterbrochen von Dünen und Gebüsch, dann frei die Weite der gekräuselten Spiegelfläche. Damals, im Alter der Träume, wurde mir beim Eintritt in das Schönste aller Märchen schwindlig. Und auch heute, wenn im reiferen Alter die Erinnerung daran wiederauflebt, überkommt mich der Schauer des Unfassbaren, der Wunsch, maßlos zu weinen und zu schreien. Damals bei jenem ersten Mal, das sich längst in die Archetypen des Ewigen eingegraben hat, als der Zug in die Station einfuhr und anhielt, stieg ich schnell aus und eilte mit meinen Angehörigen nach vorne, um die noch schnaubende Dampflok zu bewundern, ein mit fettverschmierten Kolben gespicktes Monstrum, und dem Lokomotivführer meinen untertänigsten Dank dafür auszusprechen, dass er mich an die Grenzen der Welt gebracht hatte. Er überragte mich hoch oben wie ein Held, mit seinem durch das geschwärzte Gesicht noch ausgeprägteren Lächeln. Dank seiner Vertrautheit mit dem Feuer, das er im Kessel schürte, war er für mich Vulcanus’ Sohn. Unwahrscheinlich, dass er wie wir in einem normalen Haus im Dorf wohnte, ähnlich hieße oder als Feuergott seine Zeit damit vertrödelte, mit anderen über die banalen Dinge des Alltags zu sprechen. Jenes Stück Olymp ist für mich wirklicher als der Dieselzug, der ihn heute auf jener Schmalspurstrecke ersetzt und der von den Autos gedemütigt wird, die ihn auf der Parallelstraße überholen. Begleitet vom Davonschnellen der Eidechsen wanderte ich die ausgedörrten Pfade längs der Gleise entlang zum „zweiten“ Strand von Palau und mir stieg wieder der Geruch von Pastasciutta in die Nase, die wir damals, ungeachtet der Hitze, in großen Töpfen von unserem Ferienhaus zu unserem Zelt am Rand des Wassers mitschleppten. Nie – wie könnte es anders sein! – schmeckte mir das Essen besser als hier. Damals gab es an jenem Strand nur weiße Zelte, von den Urlaubern nach Beduinenart aufgestellt, um sich vor der Sonne zu schützen. Heute ist er zubetoniert mit Ferienapartments und lauten Lokalen, mit Musikbox und Spielautomaten. Geblieben sind von damals nur der nach La Maddalena hin ausgerichtete Leuchtturm und daneben das Rauschen des klaren Wassers zwischen den Klippen, wo, von den Krebsen begleitet, meine Träume wie Kaulquappen in einem Teich durcheinander quirlten. Ich besuchte Tempio Pausania wieder mit seinen Pflasterstraßen, den Corso und die Gassen von Calangianus, meinem Geburtsort – in der Erinnerung riesig, in Wirklichkeit aber so klein wie Miniaturmodelle. Damals, des Nachts, waren sie belebt von den Seelen der Toten, die sich in Erzählungen in ruhelose Geister verwandelten. Die Lebenden des Dorfes unterhielten sich mit ihren Toten, die sie gemeinsam einen nach dem anderen über die Piazza del Popolo und den Zypressenweg entlang zum Friedhof begleitet und zuletzt bleich am offenen Sarg in der Abschiedskapelle wiedergesehen hatten. Wie es heute ist, weiß ich nicht. Damals war der Tod Teil des Lebens, ebenso wie die trauernde Liebe der Hinterbliebenen und das heitere Lärmen der Kinder. Er war nichts Abstraktes wie jener industrialisierte Tod in Berlin mit den rauchenden Schornsteinen der Krematorien inmitten der Stadt oder den unzähligen Beerdigungsinstituten, die gleich neben einem Café oder einer Fleischerei mit ihrem Allroundservice prunken. Wieder ging ich zur Piazza hinunter, wie eh und je belebt von Conferenciers und Alleinunterhaltern, wo Gespräch noch ein wenn auch im Aussterben begriffenes Theater ist. Wo sich die Sprache nicht in technischen oder konventionellen Formeln ausdrückt, sondern in Mimik, Gestik und Stimme und wo die Erzählungen Rezitationen sind, die die Protagonisten dank der Lebendigkeit der direkten Rede ebenso wie der Parodie mitsamt ihrem Charakter wieder lebendig werden lassen. Ich suchte die Smaragdküste wieder auf, inzwischen in Händen einer versnobten High Society. Einst gab es hier karge Weiden für Schafe und Ziegen. Die Hirten überließen sie den „Kolonisatoren“ im Tausch gegen einen Mercedes und eine Handvoll Geld. Es schien der Anfang von Wohlstand und einer Ära des Fortschritts zu sein. Wie jene, die mit der amerikanischen Mondlandung ihren Anfang nahm, deren nächtliche Liveübertragung wir alle gebannt vor dem Fernseher sitzend mit Euphorie verfolgt hatten. Erst als es zu spät war, begriffen wir, dass dieses Unternehmen den Zauber gebrochen hatte wie die Conquistadores Amerikas den Geist der Eingeborenen. Der „Fortschritt“ zerstörte den Mond. Er zerstörte auch das smaragdgrüne Meer, Herzstück der Seele. Viele Straßen des Landes gleichen heute den Verkehrswegen in aller Welt, wo die Autos im Dauerüberholmanöver vorbeispurten und sich dir aufdrängen, wenn du dich nicht der Geschwindigkeit derer, die es eilig haben, anpasst. Um Vergangenheit und Hoffnung wiederzufinden, muss man sich auf die von Brombeerbüschen gesäumten staubigen Feldwege vorwagen, wo es einem passieren kann, ohne Vorankündigung auf einen Nuraghe oder einen Dolmen oder das Grab der Giganten zu stoßen, auf Bauern und Hirten vergangener Zeiten, mit zerfurchten Gesichtern wie die der noch nicht vom Steinbruch heimgesuchten Felsen. Wo dies der Fall ist, wurden von der Granitindustrie, Wunden der Seele gleich, tiefe Gruben ausgebaggert. Natürlicher ist da die Gewalt der Korkgewinnung, die die Eichenstämme erstarrt und blutend zurücklässt. Natürlicher ist die Opferung der Weidetiere, die inmitten der Natur von Hirten geschlachtet werden. Die Wunde des gespaltenen, aufgerissenen Granits ist Entweihung, Tötung des Worts. Nach dieser Verunstaltung sollte man zumindest soviel Mitleid aufbringen, sie mit Erde zu bedecken, wie es mit einem Sarg geschieht, damit die gelebte Vergangenheit der Erinnerung anheim fällt. In Berlin habe ich wieder die Rolle des anderen Fremden übernommen. Das Nomadenleben ist anstrengend. Aber es ist auch ein Privileg und ein Luxus. Nur so wird dir der Glaube ans Paradies geschenkt; nur so wächst in dir die Liebe zur Heimat.

Mario Tamponi