Mario Tamponi Zurück
Unsterblichkeit dank Handy Geschwätzige Technologie Ich gebe es zu – bis vor fünfzehn Jahren verstand ich wie alle rechtschaffenen Leute rein gar nichts von Handys; ja, ich hielt sie für eine soziale Plage, und als Selbstschutz bei meinen Fahrten mit der U-Bahn bot ich den Handynutzern ein oder zwei, den hartgesottensten auch fünf Euro pro Kopf als Gegenleistung für ihre Bereitschaft, ein paar Minuten auf deren Gebrauch zu verzichten. Morgens steckte ich mir die Taschen voller Münzen, knapp 30 Euro pro Tag reichten aus, 900 im Monat, um mir bei der Fahrt relative Ruhe zu erkaufen, und das machte mich glücklich. Ich begriff nicht die Selbstkastration, die ich jedem von ihnen für wenig mehr als den Preis einer Tasse Kaffee zumutete; gewiss ertrugen sie mich als Mann aus anderen Zeiten, dem wegen seines Alters und möglicher Demenz Respekt gebührte. Und ich, für den das frühere Dasein ohne Handy das Normale war, machte mir Gedanken über das Krankhafte der neuen Mode. Mir kam es vor, als wenn es die meisten, und das am liebsten in der Öffentlichkeit, dazu nutzten, sich das Recht für einen Bühnenauftritt herauszunehmen und sich mit Caesar oder Napoleon zu verbinden; zu sprechen, ohne zu denken; sich nicht einsam oder unbedeutend zu fühlen; den Nachbarn und also sich selbst zu zeigen, dass andere, Abwesende, für sie da waren, per simplem Tastendruck erreichbar und sofort bereit, ihnen nach Belieben Zeit und Ohr zu schenken im Austausch gegen einen Schwall heißer Luft, der in perfektem Einklang auf sie zurückprallte. Und die Anwesenden, genötigt, sich endlose Telenovelas anzuhören ohne Fernbedienung, um das Programm zu wechseln, wurden unfreiwillige Zeugen dieser unheilbaren Eigenliebe. Ich hasste die technologische Weiterentwicklung dieser Handys, vor allem die mit tausend Extras, um ihre Attraktivität noch weiter zu steigern – jene von geradezu magnetischer Anziehungskraft, die sich wie von selbst ans Ohr schmiegten, wenn sie klingelten oder man sie benutzen wollte, und die sich festsaugten wie samtige Blutegel, damit die Hände frei blieben für weitere Zusatzgeräte. Ich dachte, dass diese Praxis unwiderrufliche Veränderungen zur Folge haben würde: Das als Kommunikation verstandene Bla-Bla-Bla würde sich verbreiten und schließlich den ganzen Planeten vergiften! Eine unsichtbare Bedrohung und deshalb noch besorgniserregender als der Smog in der Atmosphäre oder die Abhängigkeit von Drogen. Und ich wandte mich an die Politiker, damit sie einen weltweiten Notstand ausriefen. Wenigstens hätten sie in allen Winkeln der Städte hermetisch verschließbare Kabinen aufstellen lassen sollen, den Telefonzellen von früher ähnlich, öffentlichen Aborten gleich, wo, wer wollte, sich nach Herzenslust an seinem Handy abreagieren konnte, ohne andere zu belästigen und in seinen Rausch mit einzubeziehen. Ich wandte mich auch an die Handyhersteller, damit sie in ihre Geräte vollautomatische Zähler installierten, fähig, schwachsinnige Gespräche zu erkennen und diese dann mit gesalzenen Tarifen abzurechnen, um die Nutzer davon abzubringen. Den Gewinn hätte der Staat in Entgiftungsaktionen investieren sollen – zum Beispiel, um zu prämieren, wer ausschließlich für soziale Zwecke, in Notfällen oder mit kulturell anspruchsvollen Inhalten telefoniert hatte. So dachte ich damals, und heute schäme ich mich fast, meinen aristokratischen Hochmut einzugestehen – fern dem Empfinden der normalen Leute, die die Welt füllen und mit denen zurechtkommen muss, wer in ihr leben will. Meine Bekehrung begann wie die von Paulus mit einem Sturz vom hohen Ross und durchlief einen Prozess, den im Einzelnen darzustellen hier nicht der Fall ist. Tatsache ist, dass mir der existenzielle Wert des Handys in der vielfältigen Weiterentwicklung all seiner Formen und Funktionen immer stärker bewusst wurde. Hoch lebe das Handy, das dir erlaubt, dich Entfernungen überwindend auszubreiten! Es beschleunigt die aktiven Zeiten und reduziert die toten, ganz gleich, ob es sich um königliche Belange oder Alltäglichkeiten handelt. Du sagst zu Hause Bescheid, schon mal Wasser für die Spaghetti aufzusetzen, weil du gleich da bist; du informierst den Arbeitskollegen, dass du dich eine halbe Stunde verspätest. Du gibst und empfängst Denkanstöße, während du dich durch den Verkehr zwängst. Hoch lebe das Handy mit seiner therapeutischen Magie! Es lässt dich Schamgefühl mit Exhibitionismus überwinden, Schüchternheit mit theatralischem Gebaren, Reserviertheit mit dem öffentlichen Vortragen deines Tagebuchs. Nicht umsonst verbreitete sich das Volk der Handynutzer rasend schnell. Einst waren es nur Geschäftemacher und Karrieristen, eitle Politiker und Intellektuelle; heute sind es auch Bauern und Hausfrauen, Alte, Junge und Kinder, Leute jeder sozialen und kulturellen Schicht, Avantgarde der künftigen Kultur. Jeder von ihnen musste nur ein paar Euro aufbringen, um sich das Instrument der eigenen Vitalität und bedingungslosen Freiheit zuzulegen, die Zugehörigkeit zu den sozialen Netzwerken der Massenkommunikation und des Erfolgs, die Gabe, live zu leben und zu sterben. Für jeden, der sein Handy nutzt, verschwindet die Umgebung, und er fühlt sich als der Einzige, der Mittelpunkt, das Ganze, das Absolute, das man spürt, wenn man mit dem Unsichtbaren verbunden ist. Die Ägypter sicherten sich Unsterblichkeit durch Mumifizierung, andere Religionen durch den rituellen Glauben an ferne Paradiese. Für den modernen Menschen genügt die Verlängerung in sein Handy, denn so, wie es ihm im Leben Allmacht bietet, verheißt es ihm dieselbe auch nach dem Tod. Schon im Augenblick des Ablebens wird ihm, um keine Zeit zu verlieren, das von ihm benutzte Handy ins Gesäß gesteckt, den Empfindsameren in eine der Herzkammern, den Intellektuellen ins Gehirn, etwa an die Stelle der Hypophyse, mit Hilfe eines immer weniger invasiven Eingriffs – vor der Beerdigung aktiviert durch eine Batterie, danach auf ewig verbunden mit der Stromversorgung des Friedhofs. Zudem sind die neuesten Modelle immer besser gegen Rost, Leichengift, Fäulnisgase und Wurmfraß geschützt. Und so wird es jederzeit möglich sein, den Handybesitzer im Grab anzurufen und per Anrufbeantworter eine einschmeichelnde Botschaft zu erhalten, die ganz nach Geschmack des Angerufenen und Art der Fragestellung aufgenommen wurde: „Im Augenblick bin ich leider nicht zu erreichen; sobald wie möglich werde ich mich melden!“ Oder „Ich schlafe gerade, bitte lasst mich in Frieden ruhen... aber sagt mir, was ihr wollt – wenn ich wieder wach bin, werde ich mein Bestes geben, um euren Wunsch zu erfüllen!“ Das wären nur die simpelsten Antworten, aber dann sind da Erinnerungen ohne Reue, Geschichten in Tönen und Bildern, poetische Ergüsse, Lebensweisheiten, Vorschläge für eine bessere Zukunft. Und die Worte werden von einer heiteren Tanzmusik unterlegt sein, nicht von der Wehmut des Miserere oder dem Fatalismus des Dies Irae. Dank des ständigen Klingelns dieser Minigeräte des Lebens wird sich vom ersten Schrei eifriger Hähne im Morgengrauen an der Friedhof beleben. Und für die Lebenden wird es schön sein, die Wege des Friedhofs zu durchstreifen, den verflochtenen Botschaften, die Kängurus gleich von Grab zu Grab hüpfen, zu lauschen und sie zu entschlüsseln. So wird er für jeden zu einem Ort der Begegnung und Unterhaltung, viel interessanter als Stadtmitte, Hauptbahnhof oder ein Picknick im Grünen. Die Verstorbenen (unsterbliche Handynutzer!) vermehren sich, bis ihre Zahl die der Lebenden übersteigt und sich das Machtverhältnis zwischen beiden umkehrt. Es wird undenkbar werden, die Toten weiterhin in Nischen mit Ikea-Maßen beizusetzen oder, noch schlimmer, in Massengräbern – und auch das nur, je nach wankelmütigem Gedenken der Lebenden, für kurze Zeit. Haben letztere bis dahin auf Kosten der Toten erstickend enge Friedhöfe angelegt, ist für diese jetzt durch Ausdehnung ihres Lebensraums und Revision jeglicher Stadtplanung die Zeit der Revanche gekommen. Zu vergessen sind die eintönigen Liebesdialoge von Insekten, die das Land durchziehen, die unverständliche Sternenflut, die die Nacht des Himmels und grauer Vorzeiten zeichnet! Schon lange ist eine epochale Umwälzung in Gang mit immer neuen, unvorhersehbaren Wendungen – dank der Unsterblichkeit, die endgültig von der metaphysischen Abstraktion überwechselt in die Konkretheit der menschlichen Geschwätzigkeit. Mario Tamponi