Mario Tamponi  Zurück ITALO CALVINO ZWISCHEN WIRKLICHKEIT UND IRONISCHER PHANTASIE  „Ein Gefangener, der ausbricht, ist mir sympathisch“ Interview von Mario Tamponi (1981)  Italo Calvino ist ein Klassiker der zeitgenössischen italienischen Literatur, von seiner Bedeutung her vergleichbar mit Weltautoren wie Moravia und Pavese. Am 15.10.1923 auf Cuba geboren und in Sanremo, Ligurien, aufgewachsen, lebte er später mit Frau und Tochter in Castiglione bei Rom. Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er als Partisan, war bis zum Ungarnaufstand 1957 Mitglied der KPI. Als politisch engagierter Neorealist schrieb er 1947 sein Erstlingswerk „Wo Spinnen ihre Nester bauen“. Mit den Romanen „Der geteilte Visconte“ und „Der Baron auf den Bäumen“ (letzterer  1957 verfasst) schlägt er dann einen neuen Weg ein: Realistisches vermischt sich mit Phantastischem und wird dadurch überwunden; es ist der Mantel für eine bissig-ironische Kritik an unserem Alltag mit moralischem Anspruch. Aber während die Phantasie keine Grenzen kennt, bleibt die Wirklichkeit unverändert, und eine Lösung für deren Probleme kann und will Calvino nicht geben: „Die Welt muß menschlicher und bewohnbarer werden… fragen Sie mich aber nicht, wie!“ lautete seine Antwort, als ich ihm im Herbst 1981 im Literarischen Colloquium Berlin begegnete. Neben dem „Geschichtenschreiber“ war Italo Calvino immer auch Herausgeber, Publizist und Journalist. Und was in Italien, anders als bei uns, seit Jahrzehnten zur Pressetradition gehört – nämlich Schriftsteller von Rang auf der dritten, manchmal sogar der ersten Seite der Tageszeitungen mit Kommentaren zum Zeitgeschehen zu Wort kommen zu lassen –, schlägt bei ihm schon wieder in Ablehnung um: „Ich persönlich bin es leid“, gestand er mir, „die Rolle des Priesters zu spielen, die die Zeitungen von den Schriftstellern verlangen. Vielleicht sollte man den Unterschied viel deutlicher unterstreichen zwischen der Sprache der Literatur und der Sprache der Macht. Ich wäre für die Rückkehr des Schriftstellers in sein Reich der Literatur.“   Ein Kritiker beschrieb Sie als einen italienischen Intellektuellen, der mit einem Schuldgefühl aus der Widerstandsbewegung hervorgegangen ist und der neuen Wirklichkeit in einem Gefühl der Ohnmacht gegenübersteht. Erkennen Sie sich darin wieder?  CALVINO: Ich weiß nicht, worin ich das ausgedrückt haben soll. Die neue Wirklichkeit ist sehr schwer verständlich; ich schweige sehr oft, weil ich sie nicht verstehe. Deshalb wüßte ich nicht, bis zu welchem Grad ich ein Schuldgefühl haben könnte.   Ihr phantastischer Literaturstil, die Tendenz, historische Fakten ins Surreale zu übertragen, setzen Sie häufig dem Vorwurf des „mangelnden politischen Engagements“ aus. Halten Sie sich für einen „engagierten“ Schriftsteller? 2 CALVINO: Der beste Beweis für die Ungerechtfertigkeit einer Literaturkritik, die in allen Werken einen politischen Gehalt suchen will, also auch in einer nicht politischen Literatur, ist der, daß dieser Versuch fast immer mißlingt. Auf alle Fälle legen auch diejenigen meiner Werke, die in ihrer Thematik am weitesten von der Aktualität entfernt zu sein scheinen, politische Betrachtungen nahe bzw. können sie nahelegen. Schließlich bin ich ein Mensch, der in unserer Zeit lebt, auch wenn ich in meiner Kreativität Regeln befolge, die sich aus dem phantastischen Genre ergeben.   Aber bedeutet Ihre phantastische Welt nicht vielleicht so etwas wie eine Flucht vor der Wirklichkeit?  CALVINO: Fast mein ganzes Leben hat man mich mit dem Schlagwort „Fluchtliteratur“ wie mit einem Schuldspruch verfolgt. Dabei ist mir ein Gefangener, der ausbricht, sympathisch. Wer gefangen ist, spürt den berechtigten Wunsch zu fliehen; auch die Flucht ist eine Antwort, ist ein Urteil über das Gefängnis. Für mich bedeutet Flucht also etwas Aktives. Etwas anderes ist die Mystifizierung, die die Wirklichkeit verdeckt, sie schöner macht, als sie ist. Aber die Flucht, wo die Wirklichkeit bleibt, was sie ist, und man versucht, etwas anderes zu erfinden – im Bewußtsein, daß es sich dabei um eine Schöpfung der Phantasie handelt – bedeutet für mich etwas Positives.   Welche Funktion hat eine ironisch-phantastische Literatur wie die Ihre in unserer an Problemen und Widersprüchen so reichen Gesellschaft?  CALVINO: Die Tatsache, daß meine Literatur in dieser Gesellschaft entstanden ist, beweist, daß sie diese Gesellschaft möglich gemacht hat. Außerdem glaube ich, daß es heute nur einer ironischen Literatur gelingt, dem Schrecken der Welt, in der wir leben, zu begegnen. Es hat keinen Sinn, sich aufs Sublime oder Tragische zu stürzen, wenn die Tragödien, in die wir geraten sind, viel mächtiger sind und die Nichtigkeit unserer sprachlichen Anstrengungen beweisen würden.   In Ihren „kosmokomischen Geschichten“ benutzen Sie wissenschaftliche Fakten und Zitate, um darauf eigene Assoziationen zum Alltagsleben zu bilden. Wäre es nicht besser gewesen, den Kosmos in seiner Ferne und Unerreichbarkeit zu belassen, als ihn auf diese Weise zu vermenschlichen?  CALVINO: Die Kritik ist berechtigt. Auch ein mir befreundeter Schriftsteller, Andrea Zanzotto, sagte mir das – ich hätte nicht so vertraut mit dem Kosmos umgehen sollen. Aber es geht um etwas anderes. Die moderne Wissenschaft erschafft keine Bilder mehr, sie geht über das Bildliche hinaus und eröffnet eine vollkommen abstrakte Welt. Von Anregungen ausgehend, die ich in modernen wissenschaftlichen Abhandlungen fand, wollte ich zu einem mythischen Ausdruck zurückfinden, archaische kosmologische Mythen schaffen. Zugleich wollte ich einem gewissen Pathos des Kosmischen entkommen, das Kosmische in einer Alltagssprache wiederfinden – mit Symbolen des täglichen Lebens. Ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht; auf jeden Fall war das meine Absicht.   In Ihrem Werk wird eine Verwandtschaft zu Borges immer deutlicher…   CALVINO: Borges war für mich von außerordentlicher Wichtigkeit. Indem ich Borges las, wurden mir Dinge klar, die gewiß schon auf meiner Linie, in Richtung meiner Vorstellungen lagen. Mit Borges verbindet mich die Bewunderung für bestimmte englische Schriftsteller, die er liebt – z.B. Stevenson, Kipling und Chesterton: alles Sachen, die mir, schon bevor ich Borges las, gefielen. Natürlich ist meine Geschichte eine ganz andere – die eines jungen Europäers, der gerade noch Sohn des Zweiten Weltkriegs war… und auch meine kulturelle Herkunft ist eine ganz andere. Aber ebenso wie Borges liebe ich generell die Autoren, die im Phantastischen noch eine Art geistiger Geometrie bewahren. Und zu dieser Gruppe möchte ich zählen.   Fühlen Sie sich auch mit zeitgenössischen deutschen Autoren verwandt?   CALVINO: Ich empfinde mich als Zeitgenosse von Günter Grass ebenso wie von HansMagnus Enzensberger. Vielleicht ist die deutsche Literatur zur Zeit reicher und anregender als die italienische; wir haben viel von Deutschland zu lernen. Und ich glaube, daß zwischen deutschen und italienischen Schriftstellern ein sehr produktiver Dialog möglich ist, auch weil wir bereits eine gemeinsame Sprache sprechen.   Sie sagten, Sie fühlten sich als Sohn des Zweiten Weltkriegs. Auch Pasolini hat sich so gesehen. Allerdings versuchte dieser auch, gewisse irrationale Tendenzen wie das Konsumdenken zu bekämpfen, die die europäische Entwicklung nach dem Krieg hervorgebracht hat. Wie stehen Sie dazu?  CALVINO: Pasolini sah in der Konsumgesellschaft eine Barbarisierung und eine Gewalt; diese Anklage brachte er in den letzten Jahren immer heftiger zum Ausdruck… und sein Ende ist fast eine tragische Bestätigung dafür. In dieser Hinsicht bin ich sehr ratlos. Gewiß, in den letzten 15-20 Jahren durchlebte Italien eine enorme Umwandlung: Das Land entvölkerte sich, aus den Städten wurden chaotische Metropolen. Als Triumph der Vernunft kann man das wohl kaum bezeichnen. Hinter dieser Entwicklung standen Interessen, die alles andere als vernünftig waren und keineswegs an die Zukunft dachten. Nicht umsonst ist Italien heute ein Land, das nur mit großer Mühe zum Funktionieren gebracht wird… auch weil keine der politischen, wirtschaftlichen, aber ebenso geistigen und kulturellen Kräfte des Landes all das vorhergesehen hat, was diese industrielle Revolution mit sich brachte.   Aber das Etikett „Rationalist“ und „Aufklärer“, mit dem Sie früher oft bedacht worden sind, haben Sie dennoch nicht zurückgewiesen…
CALVINO: Das stimmt, aber nicht in dem Sinne, daß ich keinen Blick für die Krise hätte, die das Prinzip der Rationalität und des Fortschritts heute durchmacht. Ich müßte blind sein, um das nicht zu sehen. Allerdings weiß ich nicht, ob es tragfähige Alternativmodelle gibt. Auf keinen Fall glaube ich an eine Rettung durch die Rückkehr in eine bäuerliche Welt, wie sie Pasolini in den letzten Jahren idealisierte und deren Opfer er später selbst wurde. Wenn überhaupt, sehe ich die Rettung darin, die Welt, in der wir leben, menschlicher und bewohnbarer zu gestalten… Fragen Sie mich aber nicht wie – das weiß ich nicht. Mario Tamponi