Mario Tamponi Zurück
Die U-Bahn Zwischen Bewusstem und Unbewusstem Als Maulwurf sein Haus verließ, wurde er von der Sonne überrascht, die, noch tief am Horizont stehend, zwischen den Häuserzeilen hindurchschien und sich wie eine Lichtkaskade auf die Straßen ergoss. Es war nicht das erste Mal, dass dies auf dem kurzen Weg durch die Stadt geschah, zwischen seiner kleinen, im Souterrain gelegenen Wohnung im historischen Zentrum und der U-Bahnstation. Er ging diesen Weg jeden Morgen, aber in der Eile hatte er dem nie Aufmerksamkeit geschenkt. An diesem Tag dagegen spürte er den Zauber der Sonnenstrahlen, die sich ausbreitend in der Luft kräuselten, bevor sie sich auf die zitternden Baumkronen und das Straßenpflaster legten. Der Himmel war nicht ganz klar; einige bizarre Wolken wurden heller, von einer Seite umgeben von einem Ziegelrot auf tiefblauem Hintergrund, auf der anderen sich auflösend in getupfter Leichtigkeit. Maulwurf verlangsamte seinen Schritt, um seine Brillengläser anzuhauchen und sie mit einem Hemdzipfel abzureiben, er sog einen tiefen Atemzug ein und fühlte, wie ihn eine wundersame Lust allumfassender Herzlichkeit durchflutete. Dann fädelte er sich wie üblich in den Eingang der U-Bahn ein, um wie angezogen vom Modergeruch des Schimmels und angesengter Gummireifen die Freitreppe dem Untergrund entgegen hinabzugleiten, in die Welt des ewig dauernden Neonlichts, der metallischen Ansagen aus den Lautsprechern, der Menschenmassen, die hektisch und stumpfsinnig strömen, der Wagen, die ratternd alles mit einem betäubenden Zittern durchdringen und abgestandene Luft auf jedes Gesicht und Kopfhaar ausstoßen. An diesem Tag ekelte er sich jedoch nicht, fest entschlossen, wie er war, alle Menschen zu grüßen. In der Tat – ungewöhnlich für seinen eher schüchternen und zurückhaltenden Charakter – begann er, sich vor jedem, dem er begegnete, ehrerbietig zu verneigen, auch die weiter Entfernten, die er mit Kängurusprüngen erreichte. Von Kopfnicken und komplizenhaften Blicken ging er über zum Händedruck, zum gesprochenen „Guten Tag“, zu Gratulationen und Glückwünschen. Nicht im konventionellen Sinn, nein, er hatte tatsächlich ein echtes Bedürfnis nach Dialog mit seinen zum Leben zu erweckenden Mitmenschen. Es waren Fremde, eine Flut von Leuten, von denen er die meisten das erste Mal sah, aber sie schienen ihm wie Freunde oder Blutsverwandte. Die Freude der Begegnung war durchmischt mit der Befürchtung, dieses erste könnte bei vielen auch das letzte Mal sein. Maulwurf durchquerte das Innere des Waggons, in den er eingestiegen war, um sich einem nach dem anderen zu nähern; in der Abgeschlossenheit wurde auch das individuelle Gespräch intensiv und steckte andere an. Zuerst reagierten einige wie angegriffen und zogen sich zurück in ihren Kokon aus Reserviertheit, andere nuschelten irgendeine Antwort mit dem pflichtschuldigen Wohlwollen dem üblichen Idioten gegenüber, wieder andere wagten ein Entgegenkommen angesichts der hilfreichen Idee, der alltäglichen Monotonie zu entfliehen. Jeder aber fühlte sich sichtbar geschmeichelt, dass er ernst genommen und nicht zu Gewinnzwecken umgarnt wurde wie von den vielen organisierten Untergrund-Gauklern, die einem Spenden abknöpfen, indem sie echtes und vorgetäuschtes Elend beklagen oder Geklimper als Mozart-Sonaten verkaufen. Dieses Ritual erneuerte Maulwurf an den darauf folgenden Tagen, bis die allumfassende Herzlichkeit wie durch Ansteckung anfing sich auszubreiten. Die Leute wirkten immer weniger voreingenommen und zugeknöpft; fast warteten sie darauf, beachtet zu werden – ja, sie gewöhnten sich allmählich daran und versuchten etwas Eigenes. Je reger die Beteiligung, desto besser für Maulwurfs Elan, der so die Zeit hatte, sich auch den anderen Waggons zuzuwenden und bei jeder Haltestelle vom einen zum anderen zu wechseln. Am Start- und Zielbahnhof jeder Strecke erreichte er keuchend die Zugspitze, um den Fahrer, allein und scheu wie eine Maus in seiner engen und düsteren Kabine, aufzustöbern: Bei der Ankunft im Bahnhof, an dem Maulwurf einstieg, klopfte er diesem einen freundlichen Willkommensgruß auf die Schulter, und zum Abschied dankte er ihm für die pünktliche und ruhige Fahrt. Im Verlauf der Wochen gab es keine Passagiere mehr, die sich hermetisch in ihre Bücher und Zeitungen oder in ihre private Musik versenkten, um die Einsamkeit des Geistes inmitten des pöbelhaften Gedränges zu genießen. Hatte jetzt jemand das Bedürfnis nach Lektüre oder Musik, ließ er die Nachbarn daran teilhaben: Einer las allen laut vor, am CD-Player eines jeden hingen weitere Kopfhörer für diejenigen, die sie nutzen wollten. Waren alle gleich gesinnt, überfluteten Beethovens Eroica oder Vivaldis Frühling den gesamten Wagen und verwandelten als Soundtrack die Fahrt in eine kollektive Reise dem Abenteuer entgegen. Die eigene Elektronik war fast überflüssig geworden. Die meisten ließen ihre iPhones, Handys und brandneuen Geräte mit allumfassender Technik in der Tasche, ohne ihrem letzten Abtauchen in die verfluchte virtuelle Welt nachzutrauern. Sie unterhielten sich lieber mit den daneben Sitzenden und zeigten sich ihnen gegenüber von ihrer besten Seite. Wer singen, rezitieren, zum Lachen bringen, forschen oder philosophieren konnte: sang, rezitierte, verkündete seine Entdeckungen, dachte mit lauter Stimme nach – nicht mit der aufgeblasenen Eitelkeit einer Ausnahmeerscheinung, sondern voller Freude, geben und nehmen zu können wie in den eigenen vier Wänden, voller Glück, zusammen zu sein und miteinander zu wachsen. Der ins Handy gebrüllte Blödsinn zu einem bedeutungslosen Scheingegenüber verblasste zur Erinnerung an etwas Lächerliches. In der Zwischenzeit hatte Maulwurf die Sprache der Blumen entdeckt und tagtäglich nahm er eine Unmenge davon mit in den Untergrund. Da waren Rosen, Nelken, Gardenien, Jasmin, Margeriten, Gladiolen, Narzissen oder Maiglöckchen sowie Lupinen, Hyazinthen und Rhododendren – je nach Jahreszeit und Zufall. Er deckte sich beim Floristen ein, aber viele pflückte er in den öffentlichen Anlagen, ohne auf das Wachpersonal zu achten; seiner Meinung nach hatten Blumen in den unterirdischen Schluchten eine viel wichtigere Funktion als jene nur dekorative oben im Freien. Maulwurf verteilte eine an jeden und gab damit Zeugnis ab für die Ehrlichkeit seiner Worte und Gesten. In den Waggons war jetzt jeder wegen seines Daseins wichtig, ohne Privilegien oder Diskriminierungen, unabhängig von Aussehen, Alter oder Geschlecht, Eleganz oder Extravaganz. Die Frauen waren nicht länger zimperlich oder zögerten einen Moment, bevor sie sich neben einen anderen setzten; und wer einen freien Bauchnabel hatte, ließ diesen widerstandslos liebkosen, wenn jemand aus Neugier oder Laune dies zu tun wünschte. Erotische oder modische Kleidung war nicht mehr ein selektiver Köder, um dadurch provozierte, aber unerwünschte Altersgenossen – durch Zurückweisung – zu demütigen; es war eher die Lust, ohne Vorurteile und Komplikationen Kontakte zu knüpfen. Wichtig war die gegenseitige Anerkennung, die Öffnung des eigenen Lebens gegenüber Fremden und umgekehrt, mitsamt dem ganzen Ärger, den nächtlichen Träumen und den täglichen Vorsätzen. In der längst zu einem Zuhause und einer Familie gewordenen U-Bahn verschwanden die Exhibitionisten; die wirklich Notleidenden dagegen wurden wie Geschwister aufgenommen und in die Reisegruppe integriert. Dafür hatte Maulwurf immer Münzen zum Verteilen bereit, und dabei war er nicht kleinlich. Nicht schlimm, wenn einer davon hätte profitieren wollen! Und selbst, wenn es jemandem gelungen wäre, durch Bettelei reich zu werden, wäre es sinnvoller gewesen, sich darüber zu freuen als über anonyme Lottogewinner von Millionen im Überfluss. Auch die echten Talente, einst mit Schmarotzern vermischt, kamen zum Vorschein. Ein trotz seiner Hasenzähne vornehmer Herr trat in Schwebenummern auf. In der Waggonmitte spottete er der Schwerkraft und anderen physikalischen Gesetzen, erhob sich, wovon auch immer angetrieben, frei in die Luft und verharrte dort lange in einem ekstatischen Zustand. Andernorts, oben im Freien, auf den Plätzen oder im Scheinwerferlicht der Fernsehkameras hätte er damit sein Glück gemacht, aber daran schien er nicht im Geringsten interessiert zu sein. Sein asketischer Gesichtsausdruck und die verzückten Pupillen belegten, dass er für die Unterwelt geboren war und sich bei Tageslicht im Bruchteil einer Sekunde spurlos aufgelöst hätte. Früher war er den zahllosen gleichgültigen Mitfahrern sogar auf die Nerven gegangen, die ihm ab und zu einen Obolus zusteckten, um ihn loszuwerden; jetzt aber genoss er das Ansehen eines aufgeklärten Magiers. Zwischen den Sitzbänken der gleichen Linie war man früher regelmäßig einem unangenehmen Typen begegnet mit spöttischem Auftreten und einer scheußlichen Darbietung: Er entblößte seinen dicken Bauch, stieß ohne Vorwarnung einen breiten und scharfen Dolch hinein, bis Blut hervorquoll, und ließ sich dann mit zitternden Wimpern und dem flehenden Blick eines Sterbenden in die rote Lache auf den Boden fallen. Merkte er jedoch, dass ihn niemand auch nur mit der kleinsten Geste der Zuwendung bedachte, rappelte er sich fluchend auf und sprang beim nächsten Halt, als sei ihm die Polizei auf den Fersen, aus dem Zug. Jetzt, im verwandelten Klima des Untergrunds, tauchte er erneut und nicht wiedererkennbar zwischen den aufmerksamer gewordenen Passagieren auf – geschminkt als Clown und mit Nummern, die fast jedes Mal mit Kaninchen zu tun hatten. Woher auch immer zauberte er Dutzende von ihnen hervor, die dann wegrannten und frei herumliefen: keine gezähmten wie bei üblichen Zauberern, sondern wild und scheu wie in Parkanlagen und Wäldern. Die Reisenden halfen ihm, sie wieder einzufangen und in einen schmalen Diplomatenkoffer verschwinden zu lassen, was ebenso magisch war wie deren vorausgegangene Vermehrung aus dem Nichts. Inzwischen hatte man im gesamten U-Bahnnetz das nervtötende Geplapper der offiziellen Durchsagen abgeschafft. In der Vergangenheit wurden die einzelnen Stationen und zig weitere Einzelheiten angekündigt, die die Stammfahrer auswendig wussten und Neulinge in Ruhe auf Videoschirmen und Schautafeln hätten ablesen können; Durchsagen, die eine schwindelerregende Leere füllten. Jetzt war keine Spur von Lautsprechern mehr in den U-Bahnhöfen zu finden, die im Bunt der Regenbogenfarben erstrahlten und Platz für Gruppentreffen boten. Diese Entwicklung war nicht ganz schmerzlos verlaufen. Anfangs trennte Maulwurf mehr als einmal Streitende. Er warf sich als Schutzschild kopfüber in eine Schlägerei und musste einiges einstecken, ehe es ihm gelang den Schwachen zu verteidigen, aber er beschwerte sich nicht; der Gewalttätige würde früher oder später Einsicht zeigen. Maulwurf war überzeugt, dass aktive Entwaffnung die wirksamste Waffe gegen Arroganz sei und umgekehrt eine aggressive Reaktion die Animosität in einer Spirale ohne Ende verschärfe. Früher gärte dort unten das Schlüpfrige und die Scham erstickte: Im wächsernen Kunstlicht konnte man sich nicht gegenseitig in die Augen sehen, die Gesichtszüge, das Rot der Wangen erkennen. Für die Verschwörer lieferte der Halbschatten jedes beliebige Alibi. Die Taubheit des Gewissens und die Verdrängung im Halbschlaf beruhigten die Verleumder; sie verstanden nicht, dass ihre gespaltene Zunge mehr tötete als das Schwert und das dadurch ausgelöste Sterben weitaus verheerender war: langsam, lang andauernd, wiederholt, unumkehrbar, unkontrollierbar. Und sie wuschen sich die Hände im Strom der kollektiven Verantwortung rein. Einst wimmelte der Untergrund vor verdeckten Neurosen und Schizophrenien mit ihren Hemmungen, Frustrationen, Ängsten, Manien, Phobien, Obsessionen, Störungen. Eine jede verband sich mit den anderen auf bizarre Art und Weise und in unterschiedlichen Dosierungen; keine zeigte sich im Reinzustand, um nicht erkannt zu werden. Dann brachte Maulwurfs Lächeln, einer Schocktherapie gleich, die Erlösung: Die Träger jener Übel genasen zwar nicht ganz, aber indem sie ihre Scham wiederfanden, entwaffneten sie sich selbst und wurden unschädlich. So tauchten viele auf der Erdoberfläche wieder auf, traten ins Sonnenlicht, genossen Formen und Farben, und die Kommunikation verbreitete sich über Plätze, Märkte, Kinos, Konzerte, Kirchen, Partei- und Gewerkschafterversammlungen. In den Bussen und anderswo machten Jugendliche freiwillig Kranken und Alten Platz, Erwachsene spielten mit Kindern und unterhielten sich mit allen wie auf einem Wochenendausflug. Im Straßenverkehr ersetzte Höflichkeit die Schläue und in den Fußgängerzonen wurden aus Ellbogenstößen ehrerbietige Verbeugungen. Es gab keine achtlosen Raucher mehr, die ihre wehrlosen Mitmenschen in abgestandenen Nikotinschwaden ertränkten. Aus Geschäften und Restaurants verschwand die unterschwellige Berieselung; die Musik der Diskotheken wurde weich und menschliche Stimmen mischten sich darunter; aus Tanzpartnern, einst stumme Puppen, entstiegen Personen aus Fleisch und Blut. Für die meisten dauerte die Zeit der Entgiftung lange. In der U-Bahn war aus dem ewigen Wechsel von Beschleunigung und Abbremsen zwischen den Stationen ein organischer Rhythmus geworden, quasi Metronom der metabolischen, hormonalen und geistigen Prozesse eines jeden. Früher wurde dieser Rhythmus bestimmt vom Ächzen der sich öffnenden und schließenden Waggontüren und deren gellendem Klingeln. Jetzt schienen die Genesenden die Ruhe und die gleichmäßige Bewegung zu genießen, ohne ständig auf die mit Kunststoff bezogenen Sitze gepresst und wieder davon abgehoben zu werden. Nachts kehrten die Sterne zurück. Um das Schauspiel genießen zu können, ließ man ganze Stadtviertel in Dunkelheit versinken: Zu lange schon hatte sich eine introvertierte Menschheit dem Firmament entzogen, dem edelsten aller Dächer, und es durch banale elektrische Birnen ersetzt, durch unzählige Turmbauten zu Babel und Kathedralen des Lärms. Ein Hoch auf die Blackouts, wenn sie, das Leben durcheinander wirbelnd, an dessen kosmische Ursprünge anknüpfen! Als Maulwurf aus beruflichen Gründen in eine weit entfernte Gegend zog, dachte keiner der Mitbürger daran, ihm ein Denkmal zu errichten; fast alle hatten bereits vergessen, dass er es gewesen war, mit dem alles seinen Anfang genommen hatte. Von der Luft im Freien konnte er sich nicht mehr trennen, deshalb plante er, in der neuen Stadt die Aktion der bewährten allumfassenden Herzlichkeit von der Erdoberfläche aus zu starten. Er war sicher, dass die Ansteckung von oben nach unten mit der Zeit gelänge, bis sie die U-Bahn und den ganzen belebten Untergrund erreichen würde – genauso, wie sie durch ihn vor nicht allzu langer Zeit von unten aufgestiegen war zur Welt des Lichts der Sonne und der Sterne. Mario Tamponi