Mario Tamponi Zurück
Die Liebe zu den Dingen Der legale Diebstahl Heute ist Velotax, das Kaufhaus im Stadtzentrum, unwahrscheinlich überlaufen. Außer dem normalen Publikum gibt es das besonders kauffreudige des letzten Wochenendes im Monat. Es strömt wie ein Fluss bei Hochwasser durch die zentralen Verkehrsadern der vier lichtdurchfluteten Geschosse, es nährt die seitlichen Verzweigungen und Rinnsale zwischen den Wühltischen mit den Sonderangeboten. Die verführerische Lautsprecherstimme wirbt für die Neuigkeiten der Parfüm- und Elektronikabteilung. Plötzlich ändert sie den Ton, wird männlich und ernst. Mit der Feierlichkeit außergewöhnlicher Ereignisse stößt sie die Worte hervor: „Meine Damen und Herren, es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass im Erdgeschoss eine Polizeiaktion stattfindet. Wir bitten Sie, bis zum Erhalt weiterer Anweisungen an Ihren Plätzen stehenzubleiben und Ruhe zu bewahren. Wir werden Sie über die weitere Entwicklung auf dem Laufenden halten.“ Die Aufforderung, sich nicht von Panik packen zu lassen, hat die Wirkung eines tödlichen, von oben einströmenden Gases. Wie durch Ansteckung verbreiten sich überall Lähmung und tiefes Schweigen; auch die Kunden auf der Rolltreppe eilen auf die Unbeweglichkeit des nächsten Treppenabsatzes zu. „Eine Bombe? Ein Terrorangriff?“, munkeln viele mit verlorenen, fragenden Blicken. „Aber nein, sonst würden sie uns doch ins Freie lassen!“ Aber wenn der Fall so ernst nicht ist, dann war die Ansage übertrieben dramatisch. In der Tat reagiert Velotax bei Diebstahlangelegenheiten in der Regel äußerst diskret: Der Langfinger, kaum überrascht und geschnappt, wird vom Abteilungsleiter in ein Zimmerchen mit der Aufschrift „Fundsachen“ begleitet und unter vier Augen aufgefordert, den Leichtsinn einzugestehen und das Diebesgut zurückzugeben; nur bei Widerstand greift die Polizei ein. In den letzten Wochen allerdings hat man eine Besorgnis erregende Zunahme derartiger Fälle registriert und jetzt scheint der Direktor vorzuhaben, demonstrativ ein Exempel zu statuieren. Das Missverständnis „Schon wieder! Zum Teufel!“, murmelt Arno P. verärgert und wirft einen Blick auf die Uhr. Er vermutet, dass der Alarm ihm persönlich gilt, aber das scheint ihn nicht besonders zu beunruhigen. Im ersten Stock hat er bereits einen massiven Brillantring von Cartier in die Tasche wandern lassen und etwas weiter ein Fläschchen des neuen Armani-Parfüms. Er hat dabei lausbübisch in die Überwachungskamera, die ihn gerade beobachtete, gelächelt – gerade so, als lächele er einem Touristenführer zu, der auf der Piazza Navona ein Erinnerungsfoto von ihm machen möchte. Gerade will er die Lebensmittelabteilung betreten, um sich seinen regelmäßigen Proviant an San Daniele-Schinken und Brunello di Montalcino-Jahrgangswein zuzulegen, da versperren ihm vier Polizisten mit einem einhelligen, kategorischen „Halt!“ energisch den Weg. Die rostgrüne Uniform der Beamten riecht noch nach Garderobe; über dem Barett erhebt sich ein bunter Federbusch. Aus ihren lebhaften Augen und all ihren Poren entströmt die Genugtuung, Langeweile und Anonymität mit einer spektakulären, der Polizei würdigen Aktion unterbrochen zu haben. Der erste tastet den Unglücksraben mit großer Sorgfalt nach einer versteckten Pistole ab; der älteste mustert dessen dickbauchige Tasche; der dickste wiederum kontrolliert die Lage aus der Entfernung und liebkost dabei seinen Revolver, kaltblütig wie ein Comic-Sheriff. Arno legt Juwel und Parfüm spontan in den Strohkorb, den ihm der vierte Polizist vorsichtig hinhält, um sich nur ja nicht anzustecken. In Handschellen eskortieren sie ihn in das berüchtigte Zimmerchen. Die stählernen Handschellen stehen im Kontrast zur schmächtigen Figur, zur eleganten Kleidung, zum anständigen Gesicht, zur Fröhlichkeit eines Menschen, wenn er ein Reisebüro betritt, um einen Urlaub auf den Bahamas zu buchen. Die Direktion verfolgt die Szene auf den Monitoren im Kontrollraum; dieselben Bilder werden über alle Bildschirme ausgestrahlt, damit das Publikum sie in jedem Stockwerk von jedem Winkel aus bequem sehen kann. Ein jeder muss stolz sein auf die außergewöhnliche Effizienz von Velotax, die die Schläue weniger bekämpft, um die Ehrlichkeit vieler zu ehren. Aus den Lautsprechern erklingt im Hintergrund einer jener Walzer, die die Hormone zum Kauf stimulieren sollen, aber jetzt, in Abwesenheit der gewohnten Geräusche, steigert er die Spannung wie in einer Szene von Morricone. Im Übrigen ist es für alle fesselnd, die Polizeiszene aus nächster Nähe zu genießen – als Komparsen ohne Risiko. Ganz anders als bei einem Banküberfall, wo man sich auf den Boden kauern oder an die Wand stellen muss und dennoch immer Gefahr läuft, sich eine umherschwirrende Kugel einzufangen. Nach etwa zehn Minuten, die den meisten länger erscheinen als der letzte Schwarzenegger-Film, tauchen die Polizisten mit Arno wieder auf. Sie begleiten ihn dorthin zurück, wo sie ihn aufgegriffen haben, allerdings mit ostentativer Herzlichkeit und natürlich ohne Handschellen. Sie unterhalten sich ganz ungezwungen mit ihm, scherzen, lächeln und lachen wie Jerry Lewis bei dem schwierigen Versuch, wieder Normalität herzustellen. Abwechselnd schütteln sie ihm die Hand und klopfen ihm auf die Schulter. So als wäre der Film von vorhin für eine Pause während der Dreharbeiten unterbrochen worden und die Schauspieler stünden wieder in freundschaftlicher Beziehung zu dem im Film gespielten Feind. Genau in diesem Augenblick betritt der Generaldirektor persönlich die Szene. Er ist außer Atem, zwei junge Assistentinnen eilen ihm voraus. Nur mit Mühe gelingt es ihnen, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die weder versteht noch weiß, welchen Knalleffekt sie sich erwarten soll. Herr Schmidt, der Direktor von Velotax, ist ein Mann der Führungsriege, ein Mann der Regie. Er ist selten unter den Mitarbeitern und Verbrauchern zu sehen. In dieser ungewohnten Rolle weiß er nicht, wohin mit seinen Händen; er streift sich über die Hose, knöpft das Jackett auf und wieder zu, rückt den Krawattenknoten zurecht, zwirbelt die Spitzen seines Radetzky- Schnurrbarts, wohin sich seine gesamte Autorität verzogen zu haben scheint. Er umarmt Arno mit der Ehrerbietung und Herzlichkeit eines Bischofs beim Pontifikalamt und überreicht ihm Juwel und Parfum, verpackt in Goldpapier. Arno eng an sich gepresst, klammert er sich an ein improvisiertes Mikrofon wie an einen Spazierstock und fleht mit brüchiger Stimme: „Heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat es hier ein Missverständnis gegeben. Wir entschuldigen uns dafür. Der Herr hier neben mir ist ein alter Freund von uns, ein Gentleman. Seine Anwesenheit ehrt Velotax und einen jeden von uns. Ich lade Sie alle ein, mit einem Glas Champagner auf sein Wohl anzustoßen.“ Arno zeigt kein besonderes Interesse an dieser Posse. Er mag keine Rhetorik und fühlt sich fast wie ein Beiwerk zu diesem langen Kerl, der ihn um zwanzig Zentimeter überragt. Er lenkt sich ab, indem er der attraktiveren Assistentin begutachtend in ihr großzügiges Dekolleté und zu ihrem atemberaubenden Minirock blickt. An dem Namensschild an ihrer üppigen Brust erkennt er, dass sie Marta heißt. Die Kenntnis ihres Taufnamens erlaubt ihm eine gewisse Vertraulichkeit, die Marta mit einem verständnisvollen Augenzwinkern erwidert. Ihre schlanken Beinen auf den Stöckelschuhen sind einfach bestechend, so wie ihr blonder Pagenschnitt, ihr ungeschminktes Gesicht mit den Zügen eines Kaninchens, der natürliche Leberfleck auf der linken Wange. Das Publikum stößt an, dann strömt es in frischer Kauflust wieder davon in die Arterien, die Seitenarme und Rinnsale von Velotax. Herr Schmidt weigert sich, vor zwei Reportern, die ihm die Mikrofone wie Flinten ins Gesicht halten und ihn mit beleidigenden Unterstellungen provozieren, eine Erklärung abzugeben; er halst sie seinem Pressesprecher auf. In einer so delikaten Situation ist er entschlossen, neuerliche Ausrutscher unbedingt zu vermeiden. Jetzt will er sich voll und ganz Arno widmen wie einem Klassenkameraden aus Grundschultagen, den man nach einem wechselvollen Leben zufällig wiedertrifft. Man sieht ihm seine Unruhe an. Er hat nicht die geringste Lust, in Pension zu gehen; alle wissen, dass er an einem neuen Karrieresprung interessiert ist. Da fehlte ihm gerade noch eine Anzeige wegen öffentlicher Verleumdung mit dem erschwerenden Umstand, ein solches Aufsehen erregt zu haben! Bei der Verabschiedung rühmt er die Weisheit Arnos und lädt sich für den nächsten Tag zu ihm nach Hause ein. Offensichtlich will er die Versöhnung dadurch besiegeln, dass er in dessen Privatleben eindringt. Er versucht, ihn zu duzen. Arno, der keinen Grund sieht, es ihm gleich zu tun, antwortet, er erwarte ihn zusammen mit Marta. Herr Schmidt hütet sich, ihm zu widersprechen, auch wenn ihn die Notwendigkeit, sich bei einem so hochdiplomatischen Besuch von einer Angestellten flankieren zu lassen, wie eine Ohrfeige schmerzt. Die Urkunde Tags darauf klingelt er pünktlich auf die Sekunde an Arnos Haustür. Er erscheint in einem gestreiften Pullover und mit einer lächerlichen Matrosenmütze auf dem Kopf; seine Imageberater haben ihm gesagt, dass sportliche Kleidung mehr als alle Worte Ungezwungenheit und Freundschaft vermittelt. Seine Begrüßung ist außerordentlich banal: „Hallo, teuerster Freund. Wie geht’s?“ Marta hingegen stellt das gleiche Dekolleté und den gleichen Minirock zur Schau, was sie von jeder Begrüßungsformel entbindet. Der Hausherr empfängt sie in einem Hausrock aus phosphoreszierender Seide und führt sie zum Martini ins Wohn- und Arbeitszimmer. An der Wand hinter dem Schreibtisch prangt in einem Messingrahmen die „offizielle Urkunde“; gestern, in jenem berüchtigten Zimmerchen bei Velotax, legte Arno eine bloße Kopie davon vor. Darin steht der Text des Gerichtsurteils, das vor drei Jahren vom Obersten Gericht bestätigt wurde und dessen Aussage in dem in Versalien geschriebenen Titel zusammengefasst ist: DIE LIEBE ZU DEN DINGEN. Der in der trockenen Sprache der Juristen abgefasste Urteilsspruch billigt Arno, „weil seine Liebe zu den Dingen so tiefgreifend ist“, praktisch „das sakrosankte Recht“ zu, „sich diese nach Lust und Laune und eigenem Ermessen anzueignen“. Damit werden „in Bezug auf seine Person Begriffe oder Charakterisierungen wie Diebstahl, widerrechtliche Aneignung, Kleptomanie, Raub und Ähnliches als schwere Verleumdungen untersagt, weil sie unangemessen, diskriminierend, ehrverletzend und beleidigend sind“. Herr Schmidt kennt den Text schon; jetzt betrachtet er verzückt die Farben und Symbole, die dem Dokument einen edlen und offiziellen Charakter verleihen. In nie gesehener Kombination verschmelzen Nationalflaggen und -abzeichen Europas und der Vereinten Nationen mit Bildern aus Klassik und Moderne, auf denen Justitia und der Mensch als Mittelpunkt des Kosmos dargestellt werden. All das überträgt sich in die Welt der Phantasie mit einer Autorität, die weitaus größer ist als die der Unterschriften am unteren Rand: die des Präsidenten des Obersten Gerichts, des Justizministers und des Staatsoberhaupts. Die Urkunde vermittelt einen tiefen Patriotismus nicht nur gegenüber der Nation, sondern vor allem gegenüber der Welt als Vaterland. Im offiziellen Papier steht weiter nichts. Um Details und Bedeutung zu erfahren, müsste man die umfangreichen Gerichtsakten zu Rate ziehen, die in einem Buch zusammengefasst sind, das neben dem Fotoalbum auf dem Schreibtisch liegt. Herr Schmidt blättert es auf gut Glück durch. Er liest, dass bei Arno „die Kraft der Aneignung von Dingen so ausgeprägt ist, dass der Versuch einer Unterdrückung derselben ein Verstoß gegen die Natur wäre“. Und weiter: „Wem gehören die Sonne, der Himmel, die Luft, das Meer? Wer könnte einen Bürger verurteilen, der aus einer mystischen und poetischen Anwandlung heraus sich diese aneignen will? Arno wird von derselben natürlichen und spirituellen Gewalt getrieben – auch den kleineren Dingen gegenüber. Er liebt sie, ohne sich unterjochen zu lassen. Er bedient sich ihrer, aber mit dem nötigen Abstand.“ Die Durchsicht von Herrn Schmidt erfolgt schnell und aufgeregt. Er kümmert sich nicht weiter darum, zwischen den Gerichtsurteilen, den Protokollen, den Kommentaren, der Presse- Chronik und den persönlichen Notizen zu unterscheiden. Er begleitet die Lektüre eines jeden Abschnittes mit einem undifferenzierten „Donnerwetter! Unglaublich! Ausgezeichnet!“. Marta beschränkt sich auf die Grafiken und die einleuchtenden und leicht verständlichen Aspekte. Aber auch die schwer verdaulichen sind ihr nicht gleichgültig, sie üben einen mysteriösen Zauber aus. Sie eifert dem Direktor nach, ab und zu erlaubt sie sich die ein oder andere persönlichere Bemerkung: „Ich hätte nicht gedacht, dass so viel Theorie vonnöten ist, um Diebstahl zu legalisieren!“ Der Chef tadelt sie wegen ihrer unangemessenen Sprache, indem er das Gesicht verzieht. Aber Arno ist nicht übelnehmerisch. Vor allem fühlt er sich durch die wachsende Bewunderung der Frau belohnt. Körpernah umschmeichelt sie ihn und kitzelt ihn mit ihren steifen Brustwarzen. Herr Schmidt verweilt bei einer anderen Passage des Bands. Wörtlich steht da: „Der Urteilsspruch ist von einer Weltanschauung inspiriert, die wirklich den Menschen in den Mittelpunkt der Institutionen und des juristischen Systems selbst stellt. Dieser Mensch ist kein abstraktes, universelles, kollektives Wesen; er ist kein gesichtsloses Element der Masse und Statistiken. Nein! Hier geht es um den einzelnen Menschen. Der Einzelne ist das alleinige Zentrum und Subjekt der unveräußerlichen Rechte.“ Und weiter: „Es wird nicht die Menge sein, die die Rationalität oder Irrationalität des Einzelnen, die Rechte bzw. Einschränkung der Rechte festlegt. Vom Einzelnen aus betrachtet, ist jeder Standpunkt und sogar die Kategorie der Verrücktheit relativ.“ Die hämische Bemerkung des Direktors ist deutlich: „Verrückt... unglaublich!“ Er hat den Zweck seines Besuchs nie aus den Augen verloren. Die Parole lautet: Harmonie erzeugen, Gefallen erregen. Aber an anderer Stelle kann er seinen Einspruch nicht mehr unterdrücken: „Also hier werden wirklich die Grundfesten des Eigentumsprinzips im Sinne des römischen Rechts und jedes gesunden Kapitalismus untergraben!“ Arno stimmt zu, gedankenverloren und verärgert über Martas plötzliche Flucht zu einem Riesenposter der Costa Smeralda an der gegenüberliegenden Wand: „Sicher, von der Tendenz her ist das näher am Ideal des Kommunismus, der die Bedürfnisse des Einzelnen und die Gleichheit der Einzelnen begünstigt. Aber eben deswegen hat das nichts zu tun mit dem marxistischen Kollektivismus, der das Individuum für tot erklärt. Der Grundgedanke liegt vielmehr im Gegenteil: in Kants Befreiung des Menschen; in der der französischen Revolution und des Christentums im Allgemeinen. Offensichtlich ist diese Befreiung nur theoretisch, d.h. jede bürgerliche Errungenschaft hütet sich davor, sie wortwörtlich in die Tat umzusetzen, bis in die letzten Konsequenzen. Wer will denn schon die permanente Revolution?“ Arno merkt, dass er sich einer Dissertation gleich Luft gemacht hat. Er nimmt sich fest vor, das nicht mehr zu tun. Herr Schmidt schüttelt den Kopf wie jemand, der zwar das eine oder andere Detail begreift, nicht aber den Kern des Problems. Er versteht jedoch, dass dieses verfluchte Urteil das System, das seine Laufbahn und die Führung von Velotax inspiriert, in den Grundfesten erschüttert. „Wo würden wir denn da hinkommen?“, brummt er, ohne eine Antwort zu erwarten. Marta, die sich inzwischen wieder dazugesellt hat, bemüht sich, die beiden aus dem Stillstand zu befreien, in den sie sich hineinmanövriert haben: „Aber warum gilt diese Freiheit zu raub... Pardon, sich Dinge anzueignen, nur für Sie und nicht beispielsweise auch für mich? Und wenn...“ „Sie müsste für jeden gelten, der in der Lage ist zu beweisen, dass er eine ebensolche Liebe zu den Dingen hat“, unterbricht sie Arno mit einem beredten Kniff in ihre Seite. „Und es ist nicht gesagt“, fügt er ohne Luft zu holen hinzu, „dass diese Liebe eines Tages auch bei mir abnehmen oder gar völlig degenerieren kann“. Er fühlt sich von der Frau in die Zange genommen, und so unterlässt er es auszuführen, dass er sich von Gesetzes wegen einer regelmäßigen Eignungskontrolle unterziehen muss. Einmal die Woche begibt er sich zum Fachmann, für gewöhnlich Psychiater genannt, im Rechtslexikon aber als Anthropologe bezeichnet. Es ist eine Pflicht, aber er erlebt sie wie einen Zeitvertreib. Er muss keine Befragungen, medizinischen Tests oder Röntgenuntersuchungen über sich ergehen lassen. Nichts von alledem! Er streckt sich auf einem weichen Sofa aus oder wählt eine andere Position, die er für geeignet hält, um den Faden der Inspiration wieder aufzunehmen. Er spricht wie ein Mystiker im Zustand der Verzückung oder wie ein Dichter, der in Versen die Umrisse der Dinge nachzeichnet und sich von der Seele des Kosmos durchströmen lässt. Ab und zu richtet er sich wie aus einem angenehmen Wachschlaf auf, um sich in Bildern und Farben auf Papier auszudrücken. Er kann nicht zeichnen. Und deshalb kommen bei seinen Versuchen Kritzeleien heraus, die aber auf die von ganzem Herzen gewünschten Dinge verweisen. Der Fachmann folgt ihm wohlwollend, als ersehne er seiner Berufsethik zum Trotz einen Rollentausch. Wenn Arno wieder geht, fühlt er sich erleichtert, befreit vom Gewicht, sich mühsam vorwärts zu tasten. Intuitiv weiß er bereits genau, welche Dinge er sich aneignen muss. Die Liebe zu den Dingen Mit seinem Titel kann er überall hin. Er ist ein Liebhaber der Dinge, aber kein Geizhals, kein Wahnsinniger. Er eignet sich nur an, was er braucht. Seine Bedürfnisse werden nicht von Normen, von Institutionen, von Dritten vorgeschrieben. Es ist allein ihm, seiner Phantasie und seinem gesunden Menschenverstand überlassen, darüber zu urteilen und zu handeln. Seine Lieblingsorte für eine unmittelbare Aneignung sind die Kaufhäuser, wo man sofort findet, was man braucht, gut organisiert in einzelnen Abteilungen und auf mannigfache Art. Wenn möglich zieht Arno es vor, unerkannt zu bleiben, um den neidischen oder servilen Blicken des Personals zu entgehen. Wenn die Bedürfnisse weniger dringend, aber ausgefallener werden, sind Kaufhäuser ungeeignet. Dann treten andere Handelszentren an ihre Stelle – exklusive Boutiquen, Juweliere, Einkaufsgalerien, wo man die persönliche Antwort auf jeden Wunsch findet. Arno schätzt Qualität auch bei den alltäglichsten Bedürfnissen. Auf den Märkten ist er Stammgast, um sich frisches Obst der Saison und exotische Früchte zuzulegen. Für Frischfleisch begibt er sich oft in die Fleischerei des städtischen Schlachthofs, hält sich dabei allerdings in gehörigem Abstand von der Schlachterei selbst, die für ihn ein Horror ist, eine Beleidigung der Würde der Tiere. Um auf dem Laufenden zu bleiben, was Marktneuheiten anbelangt, besucht er Messen, Ausstellungen, Vorführungen und Modeschauen, zu denen er zahlreiche persönliche Einladungen erhält. Sein Erscheinen wird nicht ertragen wie das eines Parasits, der er nicht ist. Höchstens ruft er bei einigen ungehobelten Händlern einen gewissen Widerwillen hervor. Die aufgeschlosseneren Naturen dagegen fühlen sich durch seine Anwesenheit aufrichtig geehrt und empfinden diese als Aufwertung ihrer unternehmerischen Tätigkeit. Was auch einleuchtend ist, wenn man bedenkt, dass es Arno nicht an Alternativen mangelt. Und für jedes erwählte Unternehmen übersteigt der Imagegewinn entschieden den Wert dessen, was er sich aneignen könnte. Ganz abgesehen davon, dass er nicht gierig, nicht skrupellos und auch nicht verschwenderisch ist. Er eignet sich nicht einmal Dinge an, die seine Frau gebrauchen könnte. „Wenn ich das tun würde, wäre es wie eine Verkehrung des Prinzips des persönlichen Bedarfs, würde Interessenkonflikte, psychologische Verwirrungen erzeugen“, sagt er. Tatsächlich geht seine Frau arbeiten und trägt so ihren Teil zum Unterhalt der Familie bei. Etwas anderes ist es, wenn er ihr ein oder viele Geschenke machen will. Denn dann ist das Subjekt des Bedürfnisses nicht sie, sondern er selbst, und die Aneignung ist ganz und gar legitim. Arno weist regelmäßig Ansinnen zur Gründung einer Gesellschaft von Leuten zurück, die dank seines Privilegs Geld anhäufen oder sich die Grundlage zum Start eines Unternehmens beschaffen wollen. „Für Spekulationen bin ich nicht zu haben“, schneidet er ihnen das Wort ab. „Das Bedürfnis ist ein Impuls, den ich nicht programmieren oder künstlich erzeugen kann. Wie die Liebe ist das Recht ganz und gar individuell, existenziell.“ Es kann nicht verwundern, wenn Arno manchmal angesichts alternativer begehrenswerter Dinge zu den weniger kostbaren neigt. Wie es umgekehrt, wenn seine Wahl auf die entschieden teureren Dinge fällt, keinen Sinn macht, dies einer Extravaganz zuzuschreiben. Fakt ist, dass für ihn der einzig relevante Wert der subjektive ist. Der objektive Wert gilt nur für diejenigen, die eine kommerzielle Beziehung zu den Dingen haben, eine Beziehung des Handels, des Tauschs, des Profits, nicht aber der Liebe. Aber zurück zu Arnos Besuchern, die soeben mit seiner Billigung die Wohnung unter die Lupe nehmen. „Bei Ihren Möglichkeiten dachte ich, hier viel mehr zu finden“, bemerkt Marta. „Man kann die Wohnung nicht in ein Lager verwandeln“, erwidert Arno. „Im Gegenteil, wenn ich neue Dinge nach Hause bringe, mache ich erst einmal Platz, indem ich die alten und sperrigen aussortiere.“ „Sie werfen sie weg?“, bohrt sie weiter. „Nein, zunächst sehe ich nach, ob in meinen anderen Wohnungen Platz ist. Falls nicht, gebe ich sie zurück oder verschenke sie an jemanden, der sie dringender braucht als ich.“ Außer dieser Mietwohnung im Stadtzentrum, verfügt er über ein von Platanen gesäumtes Landhaus in der Peripherie für die Wochenenden und über ein weiteres zwischen den Dünen am Meer für die Sommerfrische. Er hat sie sich angeeignet, ohne dass die Besitzer, steinreich, dies bemerkt hätten. Immobilien fallen unter die von Arno begehrten Dinge, auch wenn er auf diesem Gebiet seine Wünsche zügelt, um nicht unbemerkt in den Überfluss abzudriften. Für die beiden Villen musste er sich nachts an die beim Notar hinterlegten Kaufverträge heranmachen, um die ursprünglichen Namen durch seinen zu ersetzen. Er beabsichtigt, das Ganze rückgängig zu machen, wenn seine Bedürfnisse sich ändern sollten. „Das ist ein Meisterwerk!“, jubelt Herr Schmidt, als er ein Landschaftsgemälde von Gaugin betrachtet, das zwischen vielen anderen an den vom Rauchen grauen Wänden des Flurs und des Wohnzimmers hängt. Es gibt auch ein Porträt aus der besten Periode von Modigliani. In der Tat sind dies die einzigen großen Maler, die hier vertreten sind. Keiner kann sagen, ob es sich um Originale oder Fälschungen handelt. Aber für Arno ist diese Frage eine rhetorische Haarspalterei. Wenn er wollte, könnte er die exklusivste Galerie der Stadt eröffnen. Aber er ist alles andere als ein Exhibitionist. Die Bilder interessieren ihn nur wegen des Vergnügens, sie zu betrachten, nicht wegen ihres abstrakten Kurswertes. Er ist nicht einmal ein Kunstkenner und sein Geschmack ist sogar mittelmäßig. Wenn ein Motiv ihn zu langweilen beginnt, ersetzt er es durch ein anderes. „Aber wenn das Gesetz dir das Recht zugesteht, etwas zu behalten, warum gibst du es dann zurück?“, flüstert Herr Schmidt, als ob es ihm nicht mehr gelänge, das alles unter einen Hut zu bringen, und als spräche er zu sich selbst. „Mein lieber Herr Direktor, durch mein Erbe wird niemand reich. Aber dieser Tatsache verdanke ich auch meine Ruhe. Ist es nicht herrlich, in keinem Visier von Verbrechern zu stehen, den Intrigen von Dieben und Spekulanten aus dem Weg gehen zu können?“, murmelt Arno, ohne sich vorzumachen, verstanden worden zu sein. Die Liebe zu den Frauen Marta scheint darauf zu brennen, eine Frage zu stellen, aber sie wagt es nicht, die Überlegungen ihres Chefs zu unterbrechen. Kaum ergibt sich eine Gesprächspause, hakt sie mit der Miene einer gescheiten Schülerin ein: „Betrifft Ihr Recht zur Aneignung auch Frauen? Ich meine, erleichtert die Möglichkeit, zu allen Dingen Zugang zu haben, auch Ihr Gefühlsleben?“ Arno hat schon fast darauf gewartet; ihr Pathos erlaubt ihm keine lockere Antwort. Seine Stimme wird rau und unsicher wie bei einer heiklen Beichte: „An sich bin ich mit Carolina glücklich verheiratet und habe keine sexuellen Probleme. Manchmal jedoch bricht die Lust nach etwas Speziellem aus mir heraus, die Vorliebe für eine besondere Frau.“ Marta errötet. „Für gewöhnlich interessieren mich die Dienstleistungen der Prostituierten nicht, auch nicht die der Edelhuren. Wenn es so wäre, hätte ich mit meiner Urkunde sicher keine Probleme. Schwierig wird es, wenn mich ein normales Mädchen interessiert, das nicht käuflich ist. In diesem Fall ist das Diplom praktisch soviel wert wie Altpapier. Gegenüber einer Person kann keiner Besitz- oder Gebrauchsrechte geltend machen. Jeder Mensch hat das alleinige Verfügungsrecht über seinen Körper.“ Marta hüstelt verlegen, so als höre sie sich einen erotischen Vortrag an, der in Gegenwart ihres Chefs unschicklich ist. Arno ist hartnäckig: „Und dann muss man das Hindernis umgehen, indem man vom Eigentum zur Verführung wechselt. Das heißt, man muss die Phantasie aktivieren und oftmals gewundenen und mühsamen Bahnen folgen. Hat man die Vorlieben der begehrten Frau erst einmal erraten und sich dessen vergewissert, kann es sinnvoll sein sich zu verkleiden, um sich interessant zu machen.“ Es gelingt ihm aber nicht, Marta, die ihm mit schmachtenden Augen folgt, zu sagen, wie. Wie? Indem man sich elegante Anzüge aneignet, einen echt aussehenden Schnäuzer, spezielle Perücken, betörende Parfüms, herzerweichende Geschenke, exotische Reisen... Bei all dem ist seine Urkunde von Vorteil. Fast nie ist ihm etwas misslungen, wenn er sich entsprechend engagiert hat. Er scheitert nur, wenn sein Engagement schwach ist. Aber auch das ist nicht weiter schlimm: Dann war eben das Bedürfnis nicht echt. „Pst! Pst! Ihre Frau könnte hereinkommen“, unterbricht ihn Marta wie eine kokette Komplizin. „Ach was“, beruhigt sie Arno, „meine Frau weiß alles und muss alles wissen. Geplante und heimliche Affären wären ein unwürdiger Diebstahl; nicht einmal bei einer Wette wäre ich dazu in der Lage. Carolina drückt bei meinen unvermeidlichen Seitensprüngen ein Auge zu; sie weiß, dass sie nicht weiter von Bedeutung sind. Im Gegenteil, sie sagt selbst, dass sie der Festigung unseres ehelichen Bundes dienen. Gegen diese nebensächlichen Bedürfnisse anzugehen, würde bedeuten, der Natur ins Handwerk zu pfuschen, die Seelen zu vergiften.“ Herr Schmidt fühlt sich etwas übergangen; diese Art von Unterhaltung scheint nicht gerade seine Stärke zu sein. Er beschließt, das Eis mit einer Frage zu brechen, noch immer das einseitige Du verwendend: „Weißt du, du bist mir schon einer. Wie hätte ich gestern wissen sollen, welches Risiko ich einging, als ich dich habe verhaften lassen, ohne dass mir vorher einer deine Urkunde über die Liebe zu den Dingen gezeigt hat?“ „Doch, doch“, rügt ihn Arno gnadenlos, „Sie hätten wissen müssen, dass es zu der Urkunde ein entsprechendes Abzeichen gibt; ich trage es immer im Knopfloch des Jacketts, des Hemds oder am Hut. Sehen Sie? Und doch handelt sich nicht um eine bloße Ehrung durch die Republik, wie sie den untersten Klassen der Gesellschaft verliehen wird. Es handelt sich nicht um die Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge oder zum Verein verarmter Künstler. Dieses Abzeichen ist soviel wert wie eine Erklärung der UNO, Herr Schmidt. Bevor Sie schlecht über ihren Nächsten denken oder ihn verhaften lassen, sollten die Verkäuferinnen und Polizisten die Augen aufsperren. Wer die Verantwortung für ein großes Kaufhaus trägt, sollte sich informieren und lernen, ein Abzeichen wie dieses vom Gesetz verliehene zu erkennen. Die Justiz lässt Unwissenheit nicht zu! Aber keine Angst, von mir haben Sie nichts zu befürchten.“ Dieser trockene Einwurf bringt die Temperatur auf den absoluten Nullpunkt. „Du sprichst wie ein freier Mann“, stammelt der Direktor wie gelähmt. Arno spricht wie ein freier Mann, weil er ein freier Mann ist. „Es ist der liebende Mensch, der das Recht hat, die Dinge zu nutzen, nicht umgekehrt“, lautet sein bevorzugtes Motto. „Der Abstand zu den Dingen ist meine Armut, aber diese Armut ist mein Reichtum“, lautet die Synthese seines Lebensplans. „Aber glaubst du nicht, dass dir jemand eines Tages die Privilegien, die dir diese gesegnete Urkunde verleiht, wegnehmen könnte?“, entgegnet der Direktor. „Mein Gewissen als freier Mann“, erwidert Arno, „befreit mich sogar von der Angst vor einer möglichen Restauration. Das heißt, es könnte sich eines Tages eine reaktionäre, fortschrittsfeindliche Regierung bilden, die nicht nur die gegenwärtige Gesetzgebung stürzt, sondern auch das ihr innewohnende geistige Prinzip. Und dann würde jeder schlagartig seine Grundrechte verlieren und ich meine Privilegien als freier Mensch. Die neue Regierung könnte, zum Regime geworden, ihre Macht missbrauchen, sodass sie schließlich rückwirkend tätig wird und mich für die Freiheit meiner Vergangenheit aufs Schaffott schickt. Noch schlimmer ist es, wenn innerhalb des Regimes wie so oft nur wenigen bewusst wird, dass sich eine solche Restauration nicht gegen irgendjemanden, sondern gegen den Menschen an sich richtet.“ „Ja, ja... Nur selten wird die Geschichte von den Gerechten gemacht, fast immer wird sie zum Spielzeug der Sieger“, seufzt der Direktor willfährig. „Ohne es zu merken, hat er die größte Weisheit formuliert, seit er seinen Mund aufmacht“, denkt Arno, hoffend, dass diese Bemerkung seinen Kopf nicht verlässt. Eine blasse, gigantische Sonne am Horizont kündet den Abend an. Die letzten Strahlen dringen ins Wohnzimmer und vermischen sich mit den ersten Schatten. Seit dem Aperitif haben der Direktor und seine Assistentin nur Kekse und Nüsse geknabbert. Aus der Küche, wo Carolina das Abendessen zubereitet, dringen häusliche Geräusche; sie ist mit einem Bärenhunger im Bauch von der Arbeit zurückgekommen. Herr Schmidt bittet darum, ihr helfen zu dürfen. Sein diplomatisches Drehbuch für diesen Besuch macht ihn glauben, auch ein Koch zu sein. Zunächst aber würde er gerne bei Velotax anrufen wegen der Anweisungen zum Geschäftsschluss und bei seiner Familie, um seine Verspätung zu melden. Marta ist glücklich. Mit unbändigem Schwung wirft sie sich Arno in die Arme. Sie gibt ihm einen warmen Kuss auf die Wange und streift seine Lippen mit weichen Fingerspitzen. Mario Tamponi